
Klatschnass und glücklich. Die Festivalsaison beginnt
Nach einem Festival im Zug sitzen und in gesammelten Fotos schwelgen. Sozusagen die Verlängerung eines aufwühlenden Konzerterlebnisses in der stillen Rückschau, das liebe ich. Die Klamotten noch klamm vom open-air-obligatorischen Sommerregen, das Herz noch weit offen von den zwischenmenschlichen Begegnungen und die Augen feucht, weil es schon wieder zurück geht. Doch jetzt ist der Winter vorbei und die Festivalsaison 2020 liegt wieder vor uns! Im letzten Jahr habe ich zum Ende des Sommers noch das Elbriot in Hamburg mitgenommen. Ein Festival, das meine kleine Nordantwort auf das Impericon in Leipzig war, welches im April meist der erste Festivaltermin des Jahres ist. Beides sind erstklassige Eintagesfestivals, den Bericht vom Impericon findet ihr HIER und von meinen Erlebnissen auf dem Elbriot lest ihr jetzt. (Kleiner Kommentar angesichts der Corona-Warnungen und der Absage der Behörden von Veranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern: Ich hoffe sehr, dass die Situation sich entspannt. Das Team vom Impericon meldet aktuell bei Facebook, man arbeite “mit Hochdruck hinter den Kulissen an einer Möglichkeit, den aktuellen Situationen gerecht zu werden” . Ich drücke die Daumen!)
Text und Fotos: Stefanie Krause
Es ist Donnerstag, der 15. August 2019. Ich bin gerade frisch aus dem Strandurlaub, als es mich auch schon wieder in die Ferne zieht. Und zur Musik. Ich will unbedingt in diesem Jahr noch die Band Jinjer sehen und entdecke, dass sie auf dem Elbriot spielen – in zwei Tagen. Kein Problem, die Wanderlust ist noch nicht ganz aus meinen Füßen geschüttelt, also ist diese Reise ohne Zögern geplant. Ich nehme erst auf dem Festivalgelände richtig zur Kenntnis, welch höchst beeindruckendes Line-Up sich hier präsentiert. Erstaunlich! Ist das wirklich Bruce Dickinsons Sohn, der da auf der riesigen Bühne springt, singt, rappt und schreit, als ich gegen Mittag auf dem Gelände ankomme? Ja, das sei Griffin Dickinson und seine Crossover-Melodic-Hardcore-Band Shvpes (gesprochen: Shapes), bestätigen mir die umstehenden Leute. Seine Stimme, sein Aussehen, seine Bewegungen: Die Verwandtschaft zum legendären Sänger von Iron Maiden ist unverkennbar. Doch ohne die anderen hätte ich mich bestimmt die ganze Zeit gefragt, warum mir der Typ so bekannt vorkommt. Das Eis ist gebrochen und ich fühle mich mal wieder bestätigt: Dreht euch auf euren Konzertbesuchen einfach mal um und schaut, wer da noch so steht. Kommt ins Gespräch, lernt neue Leute kennen, bleibt in Kontakt. Das geht mit Social Media doch so einfach heutzutage. Mal schauen, wen ich in diesem Jahr auf den Festivals wiedertreffe! Ich werde berichten.

Wegen Jinjer war ich auf dem Elbriot. Glücksgriff, denn sonst hätte ich dieses Festival vielleicht nicht entdeckt!
Ich bin für diesen Tag auf jeden Fall in guter Gesellschaft, unser erster Anknüpfungspunkt ist natürlich die Musik. Ich brenne auf dem Elbriot für Jinjer und stecke meine neuen Leute damit an. Schon um kurz nach Mittag entfesselt sich der erste heftige Moshpit zur Show der progressiven Deathmetalcombo aus der Ukraine. Klar, das Auffälligste an Jinjer ist bestimmt die Sängerin Tati. „Wenn du die Augen zumachst und ihre Growls hörst, könntest du denken, das ist ein Mann!“, raunt jemand im Publikum. Tja, so ist das, es gibt immer noch so viel mehr Männer in der Szene, so dass eine Frau mit einer krassen Stimme als sehr ungewöhnlich wahrgenommen wird. Dabei ist es im Prinzip egal, welches Geschlecht dein Körper hat. Du brauchst die richtige Singtechnik, um die tiefen Growls hervorzubringen. Und die richtige Technik, die hat Tati allemal. Sie hat sich eine Stimme gegeben, die ihr über den gesamten Platz des Großmarktes und derzeit auch im Wold-Wide-Web viel Gehör verschafft. Es sieht so kinderleicht aus. Sie verzieht kaum eine Mine, keine Ader tritt hervor, kein Schweiß perlt auf ihrer Stirn. Ihr ist kaum eine Anstrengung anzusehen und ich frage mich, wieviel Übung das braucht. Manchmal macht sie bei ihrer energischen Bühnenshow einen schüchterten Knicks oder lässt zwischen bösen Blicken einen Luftkuss über das Publikum fliegen. Süß, diese Mischung ist schon sehr unterhaltsam! Außerdem gefallen mir Jinjer musikalisch live einfach noch viel besser als in den millionenfach geklickten YouTube-Videos und ihren Studioaufnahmen. Ich mag’s halt, wenn es noch ein wenig heftiger, ungeschnörkelter, authentischer und rauer rüberkommt. Geiles erstes Mal mit Jinjer, ich bin zufrieden!
So, und nun?
Eigentlich wäre mein zweites Must-See In Flames, die den Headliner des Festivals darstellen, also erst später spielen. Was mache ich nun die ganze Zeit alleine auf dem Festivalgelände auf dem Hamburger Großmarkt? Ich spielte ursprünglich sogar mit der Idee, zwischendurch mal durch die Stadt zu tingeln. So ein Quatsch! Endergebnis vom Elbriot ist, dass ich rund fünf Bands ganz vorne mit neu gewonnenen Freunden abfeiere und danach zwar halb zerquetscht aber tiefglücklich bin. Die musikalische Überraschung ist die mit Abstand ungewöhnlichste Band des Tages namens Zeal & Ardor. Allen in meiner frisch zusammengesetzten Crew bleibt der Mund offen stehen. Gospelmetal nennt sich das. Ich beobachte, wie die inzwischen schon gut eingegroovte Menge auch beeindruckt den Rand hält und mucksmäuschenstill der Band aus New York City lauscht. Mehrstimmig in souliger Tonlage, mit tiefen Growls und kräftigen Deathrockvocals, kombiniert mit tragenden Melodien, dröhnendem Bass und schnellen Black-Metal-Parts stechen Zeal & Ardor definitiv aus dem Line-Up hervor! Ein Kumpel, der eigentlich auf sehr sanfte Liedermachermusik steht, die wirklich niemandem weh tut, reagiert prompt auf meine Livestories im sozialen Netz und fragt begeistert, wer das denn sei. Schöne Sache! Grenzsprengend, individuell, leidenschaftlich, verknüpfend – Eigenschaften, die ich nicht nur bei Menschen sondern auch bei Bands sehr schätze. Daumen hoch für Zeal & Ardor!
Tja, läuft auf dem Elbriot. Ich habe wirklich nur für den Gang zur Theke oder zum Dixie meinen Platz in der ersten Reihe verlassen, was für ein Festival! Selbst Powermetal pur, einem Genre, dem ich nicht unbedingt so zugetan bin, zaubert mir an diesem Tag ein breites Grinsen aufs Gesicht: Dragonforce fahren auf der Bühne ein reichhaltiges Requisitentheater auf, welches ohne weiteres einem bekloppten Computerspiel entnommen sein könnte. Dem Fingerspiel der Gitarristen kann ich kaum mit bloßem Auge folgen, so schnell wird hier gefrickelt. Der Bassist feiert mit einem lachenden und einem weinenden Auge sein letztes Konzert mit der Band. Der Drummer ist zwar hinter diesem Monstrum aus Trommeln und Deko kaum zu sehen, dafür aber deutlich zu hören. Und der Sänger bringt in höchsten Tonlagen wirklich jede Naht zum Platzen. Eine rundum perfekte Unterhaltungshow inklusive reichlich spuckender Konfettikanone und bombastischer Pyrotechnik, die die Fans zusätzlich zum Ausrasten bringen. Auch wenn es nicht unbedingt meine Lieblingsband werden wird, es ist einfach schön, wie sich manche über ihre Stars freuen. Ich gebe Dragonforce einen fetten Sympathiepunkt und ganz sozial auch gerne mal meinen Platz frei, damit jeder mal ganz vorne stehen kann.
Für mich wird es wenig später bei Of Mice and Men wieder interessanter, da ich derzeit die aktuellen Entwicklungen im Metalcore im Blick habe und mein persönliches Revival mit diesem Genre feiere. Autsch, die waren cool, böse und bedingten im Moshpit bestimmt den einen oder anderen Zahnverlust. Wahnsinn, wie manche Leute abgehen können, alle zwei Sekunden ein Crowdsurfer, alles drei Sekunden ein neuer blauer Fleck. Festivalspaß hoch zehn auf dem Elbriot – mit übrigens sehr fähigen und freundlichen Ordnern.
Apropos Hardcore und meine alten Zeiten: Anstatt mich im Moshpit durch die Gegend werfen zu lassen, lasse ich mich lieber von den Oldschoolern Hatebreed in die schönen alten Zeiten katapultieren. Ja, damals: meine ganz harte Hardcorephase in Braunschweig und Umgebung, da gab’s noch Tanzflächen in Großraumdiscos, in denen Hatebreed lief. Was freue ich mich diebisch, die in der ersten Reihe auf dem Elbriot zu sehen! Erstes Mal live nach gute 10 Jahren oder so. Danach muss ich erstmal emotional und körperlich Pause machen, kaufe mir ein Bandshirt von Jinjer, lerne noch mehr Leute kennen und erlebe Airbourne ausnahmsweise von den hinteren Reihen. Hier wird mir klar, dass ich das Elbriot schon jetzt ins Herz geschlossen habe und im nächsten Jahr bestimmt wiederkomme. Diesen guten Vorsatz kann auch der ultranasse Sommerregen bei einem professionellen Abschlussauftritt von den Melodicdeathmetalhelden meiner Teenager-Zeiten nicht wegspülen: In Flames! Obwohl sie nur einen meiner Lieblingssongs der Platte Colony gespielt haben, ist dieser Liveauftritt für mich etwas Besonderes.
Elbriot, Dankeschön und bis zum nächsten Jahr! Sauber organisiertes Festival, musikalisch unglaublich vielfältig und keine Band hat enttäuscht! Der Wunsch nach einem Wiedersehen ist so tief in meine Seele gesickert wie das Hamburger Himmelswasser in meine Schuhe und mein Smartphone.
Eure Stef